Schulleiter Matthias Wocken am 23. November 2023

Der Medienaufschlag ist gewaltig, das Thema an sich aber noch deutlich wuchtiger: Antisemitismus.

Deutschlandweit berichten Print-, Radio- und Fernsehanstalten von der Auszeichnung sechs kirchlicher Schulen mit dem Gütesiegel „Zusammen gegen Antisemitismus“. Das erste Mal der Öffentlichkeit präsentiert, wurde das Projekt samt Logo vor etlichen Jahren in der Thomas-Morus-Schule. Schon damals hatten Pressevertreter:innen Interesse an der Thematik, aber die gesellschaftliche Situation war eine völlig andere. Antisemitismus trat versteckt, heimlich und hinterhältig auf.

Dennoch erkannten Vertreter:innen der Konförderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen und der Schulstiftung im Bistum Osnabrück die Relevanz der besonderen Auseinandersetzung mit der Thematik in Schule. Mit Weitblick formulierten sie, „Schaut genau hin und seid aufrecht im Stehen gehen jede Form des Antisemitismus!“ Leider hatten sie damals den richtigen Instinkt. Aktuell tritt im Zusammenhang mit dem Konflikt, der am 7. Oktober 2023 im Nahen Osten seinen erschreckenden Beginn fand, Antisemitismus vollkommen ohne Tarnkappe zutage. Äußerungen, die unaussprechlich schienen, Darstellungen, die unzeigbar waren, finden nun öffentlich Raum. Wir sehen fassungslos staunend und mit tiefem Schrecken, was in Deutschland im Jahr 78 nach dem Holocaust plötzlich wieder los ist.

Als Bildungsinstitution müssen wir feststellen, unsere Prävention in den vergangenen Jahrzehnten reichte nicht aus. Wir haben den Kern des Hasses nicht ausräumen können. Alle Erklärungen, sämtliche Analysen und die Verankerung deutsch-jüdischer Geschichte in den Kerncurricula der Fächer haben nicht genügt. Unser gebetsmühlenartig formuliertes „Nie wieder!“ bleibt eine Worthülse.

Ich habe als Hauptschullehrer verschiedene Male mit meinen zehnten Klassen den „Blue eyed – Workshop“ der amerikanischen Lehrerin Jane Elliot in kleinem Rahmen durchgeführt. Wir hatten im Nachgang als Klassengemeinschaft immer das Gefühl, verstanden zu haben, was willkürliche Ausgrenzung bedeutet und wie sie funktioniert. Vor allem unterlagen wir aber dem Trugschluss, dass wir gefeit dagegen  seien, in Diskriminierungsfallen zu tappen. Weit gefehlt. Durch die intensive Beschäftigung mit den Kriterien des verliehenen Siegels weiß ich heute, Diskriminierung funktioniert oft subtil. Antisemitismus findet in Äußerungen und Erzählungen statt, die mir vorher nicht verdächtig erschienen.

Und mit Abstand das Erschreckendste: „Nie wieder!“ ist Blödsinn, „Jederzeit!“ muss es lauten. „Macht die Augen auf und seid lauter als die Antisemiten!“ Wer Ausgrenzung selbst erlebt hat (die Form braucht dabei in keiner Weise die Größe der Menschheitsverbrechen annehmen), braucht sich einzig und allein an die erlebten Gefühle erinnern und sich offen solidarisch mit seinem Nächsten erklären. Durch diese Empathie fangen wir jede Form von Diskriminierung ein.

Sigrid Mäscher, unsere Antisemitismusbeauftragte, formulierte gestern während der Verleihung des Siegels auf der Bühne sinngemäß: „Wenn Schüler:innen Liebe spüren, geben sie diese auch weiter.“ Mit dieser Prämisse kann ich persönlich sehr gut in den nächsten Schultag starten.

Das Gütesiegel ist öffentliche Verpflichtung der Thomas-Morus-Schule. Ich drücke uns fest die Daumen, dass wir den angelegten Anspruch erfüllen können. Bitte, liebe Schulgemeinschaft, steht zusammen und helft alle mit, nicht wegzuschauen, sondern aktiv gemeinsam gegen jede Form des Antisemitismus vorzugehen.

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