Schulleiter Matthias Wocken am 22. Dezember 2023

„Und? Was sagen Sie zum Pisaschock?“ Beinahe wäre mir rausgerutscht: „Nichts!“ Aber das ist wohl für einen Schulleiter, der die Ergebnisse ja mitverantwortet, nicht angemessen. Oder? Vielleicht doch. Was genau verantworte ich denn mit? Den Beschluss der Eigenverantwortlichkeit von Schulen in Niedersachsen im Jahr 2007? Die Aufhebung von bewährten Schulbezirken? Die Einführung des freien Elternwillens der Schulwahl? Überhaupt, die Umsetzung von Erlasslagen, die auch an unserer freiheitlichen Ersatzschule Verwaltungsakten zugrunde liegen?

(Oha, klingt grantig… ist vielleicht auch ein ganz klitzeklein wenig so gemeint ;-))

Die Frage stellt mir kurz vor den Weihnachtsferien eine Journalistin. Gerne habe ich ihr beschrieben (und sie hat es gut wiedergegeben), wie wir an der TMS Schule machen und unsere Kraft in den Erwachsenenwerdungsprozess unserer Schülerinnen und Schüler investieren.

Behüte dein Herz mit allem Fleiß, denn daraus quillt das Leben!

Diese Bibelstelle aus dem Buch der Sprüche begleitet mich seit meiner Einführung als Schulleiter an der Thomas-Morus-Schule. Sie hängt „mahnend“ in unserem Schulsekretariat an der Wand. Ein Designer hat sie 2016 für uns gestaltet. Ich glaube bis heute, dass genau DAS der Schlüssel (auch) für die Verbesserung der Pisaergebnisse ist.

Behüte dein Herz, denn nur dann kannst du Wissen aufnehmen, vermitteln, verarbeiten und anwenden. Du kannst nur dann zwischen richtig und falsch, nützlich oder unnütz, legal oder illegal und „so weiter“ unterscheiden. Ein hörendes Herz, ein Mensch, der Beziehung aufbaut oder sie zulässt, ist der Schlüssel zum Verstand.

Mein Herz spricht mit mir, unermüdlich. Es leitet mich durch den Tag. Ob es die Schülerin ist, die aufgrund des Streits ihrer Eltern am gestrigen Abend überhaupt kein Verständnis für englische Vokabeln hat. Oder der kriegstraumatisierte Schüler, der von seinen Erlebnissen bisher niemandem erzählt hat, aber seine innere Wut heute erneut aufgestaut an seinem Freund auslässt, der die Welt nicht mehr versteht, weil er wohlbehütet und gutbürgerlich am Haster Berg aufgewachsen ist. In jedem Moment spricht ein Herz.

Auch dann, wenn der kleine blonde Frechdachs aus der fünften Klasse mir laut lachend zuruft: „Endlich Ferien, Herr Wocken!“. Kurz im Treppenhaus innehaltend denke ich bei mir, du bist doch ein feiner Kerl, wer weiß, was es für Gründe hat, dass dir Schreiben, Rechnen und Lesen so unendlich schwerfallen. Auf dem Schulhof angekommen, sehe ich den jungen Mann auf dem Hinterrad seines Mountainbikes, den Lenker schwindelerregend hochgerissen, gen Heimat rasen. Vielleicht muss der jetzt auch noch gar nicht seine ganze Kraft in klassische Schulbildung stecken, durchzuckt es mich. Immer wieder ertappe ich mich in meinem schulischen Alltag dabei, dass ich mich frage, ob wir wohl alles richtig machen.

Pisa hinterfragt in Deutschland eine Art von Schule, die sich überholt hat. Aber gerade erst erscheint ein neuer Zeugniserlass, der genau dieser Art von Schule wieder Rechnung trägt. Formalistisch, nicht bezogen auf das Gesamtbild der Schüler:innenpersönlichkeit, sondern normierend, katalogisierend, schematisierend. Irgendwie muss der junge Mensch doch in niedersächsischem, deutschem und europäischem Recht abbildbar sein. Ggf. müssen dann eben noch einige Qualtitätsrahmenbemerkungen auf die ohnehin schon spärlichen Reihen passen. Sicherlich könnten die Teilnehmer:innen unseres Forums „Betriebe und TMS“ als Personalverantwortliche unsere Schüler:innen ohne diese Zuordnungen nicht in ihren Firmen verankern.

Ja, ich lasse mir den Vorwurf gefallen, mit dieser ironischen Bemerkung nicht ganz über den Haster Tellerrand hinauszuschauen. Es mag bei dem Weg über die deutschen Grenzen hinaus oder einem späteren Studium den Blick auf die ein oder andere Bemerkung geben, aber die Kompetenz des hörenden Herzen wird null aus ihnen ersichtlich.

Hier entscheidet der eine Satz zum Sozialverhalten und vielleicht noch eine kleine Bemerkung oder der liebevoll gestaltete Anhang zum Zeugnis. Warum nicht eine ehrliche gemeinsame Reflexion von Schüler:in und Lehrer:in zusammen? Wir könnten uns doch Zeit nehmen und das vergangene halbe Jahr ganzheitlich betrachten. In unserem Schulalltag geht es um weit mehr als das Abbilden von Leistungsbeurteilung. Hier wachsen Menschen heran. Hier findet Leben statt.

„Schreiben Sie doch ein Berichtszeugnis, die Freiheit haben wir doch eingeräumt.“, höre ich auf einer Fortbildung vor zwei Wochen von einer hochrangigen Bildungsverantwortlichen. Nun bin ich 25 Jahre im Dienst und davon bereits 17 Jahre in Schulleitung tätig. Ich habe viele Berichtszeugnisse gelesen und ich erlebe in Elterngesprächen, die das Berichtszeugnis abgebender Schulen zur Grundlage haben, wie mir gerne ausschließlich das zusammenfassende Notenzeugnis vorgelegt wird.

Ohne meinen Eindruck zu ausufernd beschreiben zu wollen, beide Formen bilden die Persönlichkeit des jungen Menschen, zumindest nach meinem ganz subjektiven Empfinden, nicht perspektivisch gewinnbringend ab. Wer bin ich, dass ich aus der schweigenden Anwesenheit einer introvertierten Schülerin heraus eine Nichtleistung quittiere? Ob in Buchstaben- oder Zensurenform, ich werde diesem Mädchen nicht gerecht. In keiner Weise! Mir fehlt die Zeit und die echte Möglichkeit, um diesem Menschen adäquat und perspektivisch richtig zu begegnen. Wie oft habe ich schon erlebt, dass ich eine:n Schüler:in überhaupt nicht richtig kenne. Oft eben dann, wenn andere Talente als Schule sie normiert fordert, gefragt sind.

Blöder wiederholter Pisaschock! Otto Rehhagel, immerhin mit Griechenland Fußball Europameister geworden, sagte: „Wichtig is‘ auf’m Platz!“ Genau, wichtig is‘ inner TMS! Wir sind anerkannte Ersatzschule und wir dürfen in den Grenzen unseres Stiftungsschulgesetzes freiheitlicher denken als andere.

Bundespräsident a. D. Christian Wulff schrieb mir am 22. November des Jahres einen Brief als Reaktion auf seinen Besuch bei uns in der Schule. Ich zitiere: „Die Schülerinnen und Schüler waren großartig, sehr konzentriert, interessiert und freundlich. Ich war beeindruckt von den Darbietungen und verschiedenen Inputs von den Schülerinnen und Schülern. Die gute Atmosphäre an Ihrer Schule und das aufrichtige und hochmotivierte Engagement aller Lehrkräfte war deutlich zu spüren.“

Was für gnadenlos gute Voraussetzungen für das sukzessive Verändern von Schule. Es sind eben nicht die kleinen Scharmützel im Alltag oder die anstrengende Organisation eines wie immer randvollen Schuljahres, sondern es sind die hörenden Herzen, die unsere Zukunft gestalten und die auf das gefühlte Rundumchaos der Befragungen, Studien, Wahrnehmungen und Unsicherheiten reagieren können.

Ich weiß, „wir müssen es nur machen“, ist eine abgedroschene Floskel. Aber genauso sehe ich es. Let’s weiter go. Wir sind mit „@tms“ (unserer Schulentwicklung) genau auf dem richtigen Weg. Die Sortierung kommt früh genug. Erstmal geht es nach wie vor um geniale Ideen, die Herzen behüten und hören lassen.

DANKE liebe Schulgemeinschaft der Thomas-Morus-Schule, dass wir uns in der Adventszeit gemeinsam auf den Weg zum Weihnachtsfest gemacht haben. Es legt uns durch die Menschwerdung Jesu die christlichen Kernbotschaften so greifbar unter den Weihnachtsbaum, dass wir uns „nur“ neu darauf besinnen müssen: seid tolerant, liebt euren Nächsten und schützt die Freiheit jeder/s Einzelnen – dann kann jedes behütete Herz seeeeehr gut zuhören!

Frohe Weihnachten!

Ach ja, und richtige Wege können wie dieser Text gaaaaanz lang sein und sind manchmal nur über Umwege erreichbar 🙂