Schulleiter Matthias Wocken am 20.03.2020
Ist der aktuelle Zustand vielleicht Grundlage für eine gesellschaftliche Zukunft wie wir sie uns seit langem herbeisehnen?
Seltsamerweise sind aktuell alle drückenden Themen der jüngsten Vergangenheit ausgeblendet. Das erzwungene Herunterfahren aller Systeme funktioniert tatsächlich. Nicht schadenfrei und ohne erhebliche Auswirkungen – keine Frage – aber es findet gnadenlos statt. Wie oft haben wir im Kolleg*innenkreis zusammengestanden und gesagt: „Es war doch früher ruhiger, oder? Es war doch weniger Druck und Stress?“ Und alle im Kreis nickten vehement mit dem Kopf. Seit einigen Jahren jagt ein Ereignis, ein Thema, eine Katastrophe die nächste. Und wir? Mittendrin in diesem Höllentempo, in dieser Spirale aus Hektik und vermeintlichem „Müssen“.
Nichts davon ist mehr da. Shutdown – herunterfahren! Und siehe da, die Notbremse nimmt jegliches Gas raus. Die Gesellschaft steht still.
Ich habe gestern gespürt, wie sehr dieser Stillstand die Einzelhändler rundum, meinen Freund, der seit Jahren als Piano-Freelancer unterwegs ist und so viele andere massiv drückt, Existenzen gefährdet. Meine Frau fährt jeden Tag unverändert in den Betrieb, die Verwaltung der TMS zeigt Präsenz in der Schule. Ja, aber heruntergefahren, vollkommen reduziert. Partiell blitzt noch der alte „Stress“ auf. Hier und da gibt es Klärungsbedarf, Missverständnisse und Ressentiments, aber selbst diese Momente nehmen ab. Verständnis der Situation kehrt ein. Wir müssen runterfahren, andernfalls überrollt uns das Geschehen.
Seitens der Bundeskanzlerin eindrücklich formuliert, muss doch auch dem Letzten klar werden, „Ruhe im Karton“, halt endlich inne Deutschland. Seit Ewigkeiten hatte ich nicht mehr abends das Gefühl, ein Schachspiel täte gut. Und plötzlich steht es auf dem Tisch und die Gedanken können sich auf den nächsten Zug fokussieren. Zusammenrücken und gemeinschaftsstiftend für seine Umgebung da sein. Diese druckvolle Zeit ist, rein sachlich betrachtet, ein immenses Geschenk. Und auch wenn die Dramatik unseres Zustands das Wort Genuss verbietet, die objektive Wahrnehmung des häuslichen Geschehens darf Genuss entstehen lassen.
Traurig fühle ich mit all den Menschen, die alleine sind und dies aktuell noch mehr spüren als in „normalen“ Zeiten. Wir haben uns fest vorgenommen, zu telefonieren und Videounterhaltung endlich zum Alltag zu machen. Wäre doch blöd, diesen ganzen Schnickschnack nicht genau jetzt einzusetzen. Wen habe ich alles schon gesprochen, den ich seit so langer Zeit nicht in Ruhe gehört habe. Verrückt, dass da erst ein Virus zuschlagen muss.
Und nach Corona? Können wir was retten von diesen neuen Zuständen oder geht dann mit Überholmanövern und Jagdgebaren erst richtig los, was zum Toppen des unruhigen Seins noch gefehlt hat? Ich hoffe und glaube optimistisch, dass das nicht passiert. Alle spüren, was unserer Gesellschaft fehlt. Und die zu spürende Solidarität ermöglicht es bestenfalls sogar gesellschafts- und demokratiefeindliche Strömungen kleiner werden zu lassen. Deutschland wächst wieder zusammen. Wie selbstverständlich halten die Menschen in unserem kleinen Edeka-Markt Abstand und kaum einer murrt, dass er erst nach Anstehen ins Geschäft kommt. Die wenigen Motzer werden von zunächst Unbeteiligten freundlich aber bestimmt aufgeklärt.
Die sozialen Netzwerke sind voll von Diskussionen, ob die Bundesregierung alles richtig macht oder nicht. Wer weiß das schon und wem steht es tatsächlich zu, sich dazu zu äußern. Aber die Regierung wird wahrgenommen und wir beschäftigen uns mit dem, was sie verlautbart. Wunderbar, ernsthaftes Auseinandersetzen mit Themen hat zu lange zu oberflächlich stattgefunden. Wird Zeit, dass sich alle Bürger wieder mit uns, mit den Menschen im Land auseinandersetzen.
Demokratie-Bildung hatte sich die TMS auf der ersten Personalkonferenz zu Beginn dieses Schuljahres als einen ihrer schulprogrammatischen Schwerpunkte auf die Fahne geschrieben. Genau richtig, oder?
Schönes, erholsames Wochenende!