Interaktive Displays neben der Kreidetafel und Programmierkurse schon für dieganz Kleinen: Die Digitalisierung erreicht auch die Schulen in Osnabrück. Einigehaben eine Vorreiterrolle eingenommen. Wie digitalisiert ist der Unterricht?

Es war eine der Lieblingsanekdoten von FDP-Chef Christian Lindner im Wahlkampf: Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble dürfe zwar „Schulen in Botswana und Burundi finanzieren, aber nicht in Bremen oder Bottrop“. Die Klage über den deutschen Bildungsföderalismus fand Gehör.
Ende November verabschiedete der Bundestag eine Grundgesetzänderung, die eine direkte Unterstützung des Bundes für Schulen ermöglichen soll. Die Digitalisierung soll in allen Klassenzimmern ankommen. Das könnte vorerst allerdings ein frommer Wunsch bleiben, denn die Länder fürchten um ihre Kompetenzen und wollen den „Digitalpakt“ stoppen.

Kinder programmieren

Die Kinder, die an diesem Samstag in einem Computerraum der Uni Osnabrück auf dem Campus Westerberg sitzen, können mit Schäuble und Botswana noch nicht viel anfangen. Sehr wohl aber mit der Programmiersprache „Abbozza!“ oder dem Mini-Computer Calliope. Sie nehmen an einem „Kids’ Hackathon“ teil.

Bei diesem Hacker-Marathon treffen sich Gleichgesinnte, um gemeinsam zu programmieren oder technische Geräte zu entwickeln. An einem trüben Novembertag basteln so 33 Jungen und Mädchen zwischen neun und zwölf Jahren für mehrere Stunden am Calliope. Sie bringen die Leuchtdioden dazu, Smileys oder Muster zu erzeugen. Andere lassen eine Melodie abspielen. Der Spaß kommt nicht zu kurz, zwischendurch tollen die Nachwuchs-Programmierer durch die Gänge. Es geht laut zu.

„Die Kinder arbeiten frei und realisieren eigene Ideen“, erklärt Michael Brinkmeier, Informatik-Professor und Initiator des Hackathons. So kann man auf spielerische Weise den Umgang mit Hard- und Software lernen. Einige Eltern sitzen daneben und kratzen sich etwas ratlos am Kopf. Die „Digital Natives“, also diejenigen, die mit dem Internet groß geworden sind, kennen eine analoge Welt nicht mehr. Außer in ihren Schulen.

„Die Repräsentation digitaler Technik ist relativ mau“, sagt Brinkmeier. Seine Diagnose ist schonungslos: „Wir haben an den Schulen große Defizite in informatischer und technischer Bildung.“ Das variiere von Schulform zu Schulform, aber generell gebe es erheblichen Bedarf an Weiterbildung und Erprobung neuer Unterrichtskonzepte. Nicht zuletzt gebe es viel zu wenig Informatiklehrer. Brinkmeier beschreibt einen Teufelskreis: „Wenn Schulen Stellen für Informatiker ausschreiben und es bewirbt sich keiner, fällt die Stelle weg. Also schreiben sie lieber was anderes aus.“ Brinkmeier war früher selbst am Carolinum tätig.

Abhilfe soll unter anderem das Projekt „PhyCoS“ (Physical Computing in Schulen) schaffen. Es startete im August 2017 aufgrund einer Initiative der Stiftung Stahlwerk Georgsmarienhütte. An dem Projekt beteiligt sind auch der Landkreis, die Stadt Georgsmarienhütte und die Uni. Es ist auf drei Jahre befristet und wird auch von den Stiftungen der Sparkassen in Stadt und Landkreis gefördert. Brinkmeier hat die Leitung übernommen.

Selbst Probleme lösen

„Die Idee ist, an ein, zwei Tagen in Schulen zu gehen und gezielt Formate für einen Jahrgang zu erarbeiten“, so der Professor: „So können Lehrer Anregungen für ihren Unterricht mitnehmen.“ Eine „Maker-Attitüde“, also einfach mal zu machen, solle in die Schulen einziehen: „Es ist ein Entwicklungs-, nicht ein Nachbauprozess.“ Die Schüler sollten selbstständig überlegen, wie sie „dieses oder jenes Problem“ lösen. Inzwischen sind etwa 20 Schulen aus Osnabrück und dem Südkreis beteiligt. Brinkmeier kennt die Bedenken, die solchen Angeboten entgegenschlagen. „Wenn Lehrer keine eigenen Erfahrungen mit dem Thema haben, sind die Einstiegshürden hoch.“ Das sei durchaus nicht nur eine Generationenfrage nach dem Schema: Hier die alten Sturköpfe, dort die jungen Hippen. „Erwachsene gehen verkopfter ran als die Kinder und stehen sich selbst im Weg.“ Dazu kommen die Furcht vor Souveränitätsverlust, wenn die Technik streikt, und ein ohnehin vollgestopfter Zeitplan.

Eins ist Brinkmeier wichtig: Es geht um mehr als bloße Hardware-Nutzung. „Die Forderung ,Kostenlose Tablets für jeden Schüler‘ ist blauäugig.“ Einmal, weil man zum längeren Arbeiten Tastaturgeräte benötige und in der jüngsten Smartphone-Generation das Denken in Ordnerstrukturen verloren gegangen sei. Zum anderen aber bleibe die Software-Kenntnis, die Fähigkeit zum Programmieren, auf der Strecke.

Programmieren, das lernen auch schon die ganz Kleinen an der Heinrich-Schüren-Schule. Die Grundschule bietet seit einem Jahr einen entsprechenden Kurs für Viertklässler an – beschränkt auf acht Teilnehmer, der limitierten Tablet-Anzahl geschuldet. „Wir wollen schon im jungen Alter Interesse an Informatik wecken, um die Kinder auf ihr späteres Berufsleben vorzubereiten“, so Konrektorin Matthia Gratzki. Der Calliope wird hier in den Sachunterricht integriert. Gratzki verweist zudem auf pädagogische Aspekte: „Der Calliope bietet tolle Möglichkeiten für Inklusion und Integration.“

Alleinstellungsmerkmal

Gerade an Grundschulen kann Michael Brinkmeier gewisse Hemmungen feststellen. Gratzki sieht den medialen Schwerpunkt an der Heinrich-Schüren-Schule als Alleinstellungsmerkmal in der Region: „Wir konnten im Kollegium eine Mediengruppe bilden.“ Über Fortbildung und eigenes Engagement konnte man sich selbst über die passende Ausstattung informieren. Gratzki kritisiert das Gießkannenprinzip, nach dem 2009 im Rahmen des Konjunkturpakets II Gelder an Schulen verteilt wurden. „Viele haben einfach Notebooks angeschafft, ohne es groß zu durchdenken.“ Vom Digitalpakt erhofft sie sich eine effektivere finanzielle Unterstützung.

Eine soziale Komponente spielt hinein: „An weiterführenden Schulen herrscht der Ansatz ,bring your own device‘(BYOD) vor“, weiß die Grundschullehrerin. Nach diesem Prinzip sollen die Nutzer ihre – oftmals schon vorhandenen – privaten Endgeräte in den Unterricht einbringen und so den individuellen Bedürfnissen besser gerecht werden. Gratzki befürchtet eine Zwei-Klassen-Ausstattung je nach Kaufkraft des Elternhauses. „Das kann nicht die Lösung sein.“

Erfolgreiches Projekt

Dieser Ansatz wird aber durchaus praktiziert, etwa an der Wittekind-Realschule. Schon 2012 startete dort ein Pilotprojekt, mittlerweile gibt es Beamer und Apple-TV in jedem Raum. Ab der siebten Klasse arbeitet jeder Schüler mit einem iPad – „Tabletklassen“ nennt das Schulleiter Dirk Ebrecht: „Wir arbeiten neun Stunden täglich mit dem, was für andere Zukunftsmusik ist.“ Ihm geht es, anders als Brinkmeier, nicht ums Programmieren, sondern um den richtigen Umgang mit den Geräten: „Wir produzieren Anwender.“ Schulbuchverlage schaffen neue Angebote, Hausaufgaben können versprachlicht online abgelegt werden. Bei Neueinstellungen, so Ebrecht, sei eine zentrale Frage, wie Tablet-affin die Bewerber sind. Das ganze Kollegium nimmt an Fortbildungen teil. Die iPads müssen die Eltern selbst kaufen, die Wittekind-Realschule bietet aber durch eine Kooperation mit dem gemeinnützigen Verein „Mobiles Lernen“ verschiedene Finanzierungsmodelle an. Für soziale Härtefälle werden zwei Tablets pro Klasse vorgehalten, die durch die Masse mitgetragen werden. Probleme mit dem BYOD-Prinzip gebe es nicht, so Ebrecht: „Es kann gar nicht anders funktionieren. Für alle wäre kein Geld da.“

Ehrlich betreiben

Als das von ihm selbst bevorzugte Modell preist Professor Brinkmeier die Thomas-Morus-Schule. Die Oberschule hat im Sommer 2017 interaktive Displays angeschafft, die in Kombination mit den traditionellen Kreidetafeln eingesetzt werden. Dafür kooperiert Schulleiter Markus Wocken mit dem Unternehmen VS-Visu.

Mittlerweile ist man dort einen Schritt weiter: „Wir arbeiten inhaltlich mit den Schülern, schwerpunktmäßig im Programm One Note, zusammen“, erläutert Wocken. Arbeitsblätter werden digital zugeteilt, bearbeitet und benotet. Auch Wocken spricht davon, Digitalisierung „ehrlich“ zu betreiben und nicht einfach irgendwo einen Computer hinzustellen. „Für mich heißt Digitalisierung: Inwieweit schaffen wir es, die Wirklichkeit im Leben der Schüler abzubilden? Sie sind schon lange Anwender, aber in der Tiefe alleingelassen.“ Für die Lehrer ist die Niedrigschwelligkeit von Vorteil. Sie können sich problemlos in jedem Raum in ihr Profil einloggen. Am wichtigsten sei aber, dass die Digitalisierung „endlich bei den Schülern ankommt. Dafür ist die Technik Voraussetzung. Das Konzept ist da, es geht jetzt um die Implementierung.“ Digitale Werkzeuge seien kein reiner Selbstzweck, sondern müssten einen Mehrwert liefern.

Möglich wurde die Anschaffung durch die finanzielle Hilfe des Schulträgers, der Schulstiftung im Bistum Osnabrück. Wocken schätzt die Nähe zum Träger als außerordentlich wichtig ein: „Wir haben einen sehr kurzen Draht, sprechen über Visionen. Es geht viel über Überzeugen.“ Für ihn wäre die Grundgesetzänderung eine „tolle Weichenstellung“, er mahnt aber, dass jetzt die „Umsetzung in tragende Konzepte“ anstehe: „Es geht um den inhaltlichen Effekt.“

Die Ministerpräsidenten der Länder haben sich indes darauf verständigt, den

Digitalpakt in der jetzigen Form im Bundesrat abzulehnen. So kommt es vorerst weiter auf Projekte wie den „Kids’ Hackathon“ an. Im Computerraum am Westerberg tüfteln derweil die neun- bis zwölfjährigen Kinder weiter an ihrer digitalen Zukunft. Es ist zu spüren, dass sie und ihre Eltern nicht auf Beschlüsse des Staates warten wollen.

Von Raphael Steffen