Schulleiter Matthias Wocken am 30. Juni 2023

Liebe Schülerinnen und Schüler, liebe Eltern und Erziehungsberechtigte, liebe Angehörige und liebe Kolleginnen und Kollegen!

1856 starb einer der bedeutendsten deutschen Dichter Christian Johann Heinrich Heine. In seinen Nachtgedanken von 1846, zehn Jahre zuvor, formulierte er:

„Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht.“ Sehe ich einige Eltern nicken, die aufgrund aktueller Geschehnisse bei Gedanken an Deutschland auch nicht schlafen können?

Heine schrieb diese Gedanken nicht unter der Überschrift, wie furchtbar es bei uns läuft, sondern als Sehnsucht und im Übermannen der Gefühle an seinem Aufenthaltsort Österreich, die er für sein Heimatland, speziell für seine Mutter, die er lang nicht mehr gesehen hatte, empfand. Er konnte schlichtweg vor Sehnsucht nach seiner Heimat nicht schlafen.

Vielleicht ahnt ihr liebe Schülerinnen und Schüler nun schon, was kommt? Zumindest könnte meine Religionsgruppe aus der 10b vermuten, dass ich gedanklich viel tiefer unterwegs bin als es zunächst den Anschein hat.

Also, heute wird Heines Nachtgedanke missbraucht. Er dient als Fake, dass ja bereits Heinrich Heine, einer der berühmtesten deutschen Dichter, beim Gedanken an Deutschland schlecht draufkam. Was ein Quatsch, wie ihr nach meiner erklärenden Einleitung wisst.

Aber kaum jemand macht sich die Mühe, hinter Fakes zu schauen. Recherchieren und Zeit investieren, ist in unserer gehetzten Zeit einfach nicht mehr in. Wenn ich was wissen will, guck ich schnell bei Google (stimmt wahrscheinlich auch nicht mehr – youtube, im Snap oder Ähnliches wäre vielleicht richtiger). Und ehrlich? Meistens ist es der erste Link und was auf Tiktok läuft, ist Realität.

Kaum etwas wird hinterfragt, kaum etwas kritisch beäugt. Fast immer sehe ich ja auch noch bewegte Bilder in einem Miniclip dazu und dann weiß ich vermeintlich Bescheid.

Wenn also radikale Splittergruppen unseren deutschen Dichter Heine als Experten für den Untergang Deutschlands heranziehen, dann schlucken das sehr viele Zuhörer:innen unreflektiert. Was eine grausige Vorstellung für die deutsche Bildungsnation.

Und ganz ehrlich, wir wollen euch einfach in dieser Vorstellung nicht entlassen. Wenn die Gefahr bei euch besteht, dass ihr oberflächliche Mitbürgerinnen und Mitbürger werdet, dann schließen wir jetzt die Türen ab und bleiben für immer hier sitzen. Wenn die reale Gefahr besteht, dass ihr radikal wählt, dass ihr Gruppierungen unterstützt, die unsere Demokratie gefährden, die sich Führerstrukturen zurückwünschen und das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland abschaffen wollen, dann geben wir die Zeugnisse heute nicht aus.

Ihr müsst bitte Denkerinnen und Denker, besser noch Vordenkerinnen und Vordenker sein. Das ist der Anspruch eurer Thomas-Morus-Schule. Ihr müsst für echte Werte und Aussagen stehen, nicht für Fakes.

Ihr müsst ganz Mensch und nicht belangloser Bestandteil der Gesellschaft sein. Wir, eure Lehrerinnen und Lehrer, eure Eltern und alle anderen älteren Menschen brauchen euch. Ihr seid die Generation, die kritisch auf unsere Welt schauen muss, um sie fortlaufend zu einer besseren zu machen.

Der gleiche Heinrich Heine setzt übrigens sein Gedicht ein paar Strophen weiter mit den Worten fort: „Deutschland hat ewigen Bestand. Es ist ein kerngesundes Land.“ Das passt ja nun so überhaupt gar nicht mehr zum Fake des „um den Schlaf gebracht“.

Aber, diese Weiterlese-Mühe machen sich eben viele Menschen gar nicht mehr. Songtitel auf Spotify und Artikel in Zeitungen werden oft nur noch nach den ersten Zeilen beurteilt (die GEMA – die Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte – zahlt bereits nach den ersten 30 Sekunden des Zuhörens – ein Albtraum, wenn Musik so verkommt). Sich in etwas hineinzuknien, z. B. sich ein Lied zu „erarbeiten“, macht kaum noch jemand. Wir leben in einer Wegwerf- und Sekundenbeurteilungswelt. Filme, die mit der klassischen Bildrate von 24 Bildern pro Sekunde gedreht werden, holen euch oft gar nicht mehr ins Kino. Ihr seid durch euren Online-Dauerkonsum schon auf High Frame Raten geeicht. Die Bilder müssen ordentlich zackig fliegen, damit ihr überhaupt noch ein Weilchen hinguckt.

In einem unserer letzten Forumstreffen mit Betrieben der Stadt und des Landkreises hörte ich von einem Firmenchef Folgendes: „Liebe Lehrerinnen und Lehrer der Thomas-Morus-Schule, bitte schicken Sie uns Schüler:innen als Azubis, die eine Arbeit zu Ende bringen.“

Heißt, in der Firma zeigt sich das Problem, dass Problemlösungsstrategien gar nicht mehr vorhanden sind oder angewendet werden. „Kann ich nicht“, „weiß ich nicht“, „ist mir zu schwierig“ oder ganz schlimm „nee, da habe ich keinen Bock drauf“.

Wenn wir diese Haltung nun gemeinsam weiterdenken, zeigt sich ein gewaltiges Problem für die Zukunft. Die Welt ist im Moment durcheinander und zwar gewaltig:

  • Kriege an Stellen, wo wir vor zwei Jahren gesagt hätten, kann gar nicht sein,
  • Klimanotwendigkeiten, die dringendst umgesetzt werden müssen – auch ohne das Bescheidgeben von Kleberinnen und Klebern,
  • milliardenschwere Kredite, die irgendwann wieder zurückgezahlt werden müssen,
  • Flüchtlingsströme, die gegen die in Not geratenen Menschen von 2015 zahlenmäßig noch deutlich höher ausfallen werden und die ja Gefahr laufen, im Mittelmeer zu ertrinken,
  • eine Gesellschaft, die in ihren demokratischen Grundwerten wankt und unsicher im Handeln ist,
  • vermeintlich rechtmäßige Wahlen, die Autokraten in ihrem Regierungshandeln stärken,
  • Atomwaffendrohungen, die wir eigentlich seit der Abrüstung und dem Erleben von Nagasaki und Hiroshima für erledigt hielten,
  • ein weit über 80jähriger Staatschef, der nur zur Stange halten muss, damit der mit mehreren Anklagen überzogene ehemalige Präsident hoffentlich nicht wieder ans Ruder kommt und in dieser Woche dann auch noch den Ukraine-Krieg in den Irak verlegt,
  • eine Ampelkoalition, die aktuell die Bürger:innen des Landes düpiert und so ungewollt, fundamentalen Gruppen, ja tatsächlich wieder rechtsradikaler Gesinnung, den Rücken stärkt.
  • Achso, und Hanf geben wir frei und Krankenhäuser, die allen Kranken helfen können, gibt es nur noch alle 100 Kilometer…

Was ein Kuddelmuddel!

Und mittendrin entlassen wir euch mit einem Schulabschluss ins Leben. Wir entlassen euch mit der Mittleren Reife.

Ich sag euch was, wir trauen euch tatsächlich zu, dem Kuddelmuddel mit Rückrat zu begegnen. Wir trauen euch zu, demokratisch zu denken und zu handeln. Wir trauen euch zu, falsch von richtig zu unterscheiden. Wir trauen euch zu, für eure Meinung einzustehen. Wir halten euch tatsächlich für reif genug, um ins Erwachsenenleben aufzubrechen.

Klar geht das nicht für jede:n von euch direkt geradeaus. Ich bin mir sicher, dass es Umwege geben wird. Und der alte Mann am Mikro sagt mit dem Brustton der Überzeugung: Menschen, die immer nur geradeaus gehen und bei denen alles glatt läuft, sind verdächtig. Ausschließlich aus Umwegen erwächst ein Gespür für die Bewältigung von Problemen. Und dieses Gespür braucht ihr. Geht die Menschheitsprobleme und jedes kleine eigene Lebensproblem mit Wucht an. Die investierte Kraft zahlt sich aus. Das versprechen wir euch.

Es gilt: Wer nichts zur Lösung beiträgt, ist Teil des Problems!

Thomas Morus, Thomas More, ist soweit gegangen, dass er sich für seine feste Überzeugung hat umbringen lassen. Er war sich sicher, mit seiner Einschätzung der politischen Lage richtig zu liegen und hat sich nicht verbogen. In seinem Utopia, was es so wie er es beschreibt und sich gewünscht hat, bis heute nicht in Perfektion gibt, gehen Menschen anständig miteinander um und diskutieren Probleme lösungsorientiert ohne jede Drohung.

Wir wünschen euch eine Zukunft in Utopia. In dem Land, was ihr euch wünscht und was die Bibel in ihrer frohen Botschaft beschreibt – und, dem Kohelet Spaß zugesteht! Macht euch die Erde Untertan – aber vielleicht cleverer als eure Vorfahren…

Mit diesem Wunsch sowie einem Riesenpfund an Gottes Segen entlassen wir euch heute. Bleibt anständige Mitmenschen, dann kann euch in allem Kuddelmuddel nichts geschehen.